"Wozu in einer fremden Grammatik blättern?
Die Nachricht, die dich heimruft
Ist in bekannter Sprache geschrieben."

Bertolt Brecht, 1937

Sonntag, 26. Oktober 2014

Intergeneriert?



Nun, da wir das so gerne tun, messen wir diesem Begriff doch eine Bedeutung bei:

Achtung, nun begeben wir uns auf ein etwas ermüdendes Feld. Ja, auch ermüdend für mich. Ich verstehe sie. Ermüdend in jeglicher Hinsicht – das trifft es gut.

Beginnen wir also mit unser aller Lieblingswort:

Integration

Dieses Wort wird abgeleitet aus dem Lateinischen: „integratio“
Integration ist das Schlagwort, das uns allen um die Ohren gehauen wird. Je nach Anlass benutzen aber auch wir diesen Begriff als Knüppel.

Haben wir uns je Gedanken darüber gemacht, was wir mit diesem Begriff ansprechen, bzw. -was noch schlimmer ist - einfordern?

Übersetzt aus dem Lateinischen bezeichnet dieser Begriff die Wiederherstellung eines Ganzen.
Auf der soziologischen Ebene bezeichnen wir damit den „… Prozess der verhaltens- und bewusstseinsmäßigen Eingliederung in bzw. Angleichung an Wertstrukturen und Verhaltensmustern“ (Hillmann 2007, 383)

Zwei Begriffe, die der Definition von Integration dienen, lassen mich stutzig werden.

Wiederherstellung und Angleichung:

Wiederherstellungszwang als Symptom einer Erbkrankheit innerhalb der deutschen Gesellschaft? Oder der krampfhafte Versuch der Wiederherstellung einer gemeinsamen Identität? Das Festhalten an dem Glauben eines gemeinsamen Ganzen abgeleitet von der Idee der nationalstaatlichen Grenzen?

Auf der einen Seite stellt sich mir hierbei die Frage, worin denn das Ganze besteht, das wiederhergestellt werden soll? Wiederherstellung impliziert ja, dass es da schon einmal ein Ganzes gab, das es nun in der damaligen Form wieder geben soll. Sonst würde man ja von Herstellung und nicht Wiederherstellung sprechen.
Auf der anderen Seite bedeutet dieses Verlangen doch auch, dass man das Gefühl hat, dass das Ganze, das es einmal gab (?), durch Faktoren, in diesem Fall Migration, zerstört wurde. Nun gilt es, das zerstörte Ganze wiederherzustellen.

Genug Verwirrung für heute :-) Oder was denken Sie, die das hier lesen?

Samstag, 25. Oktober 2014

Perfekt intergeneriert



Gestatten Sie: Lieblingstürk‘. Das ist mein Name. Ich bin geboren und aufgewachsen in der Bundesrepublik Deutschland der 1980er, politisch korrekt bezeichnet, bin ich eine Bildungsinländerin mit Migrationshintergrund, seit einigen Jahren aber auch Deutsche mit Migrationshintergrund.
 
Mein Etikett trage ich seit meiner Geburt an mir. Wie auch SAP es erfordert, muss dieses „Label“ von Zeit zu Zeit angepasst werden, um kompatibel zu funktionieren. Das tue ich. Ich bin angepasst an die zeitgemäßen Erfordernisse, einer Produktlinie und gar der Produktionslinie eindeutig zuzuordnen und gelange an die Konsumenten, in der Form, wie sie es geordert hatten. Das System der Nachfrage und des Angebots funktioniert.
Warum also über eine Optimierung nachdenken?

Von Zeit zu Zeit kommt es vor, dass Wertschöpfungsprozesse neu koordiniert werden müssen, um Nicht- wertschöpfende Faktoren aus dem Produktionsprozess zu eliminieren, um wiederrum daraus eine optimierte Produktionslinie aufbauen zu können, die den Wert des Produkts als indirekter Faktor steigert.
Dies funktioniert sehr gut. Zumindest in einem nivellierendem System.
Doch bevor ich in die Makroebene einsteige, möchte ich auf der Mikroebene beginnen:
Das Individuum oder auch der Aktant; Je nach dem, als „wer“ oder „was“ dieser Mikrofaktor definiert wird.

Wie eben erwähnt, bin ich in der Bundesrepublik Deutschland der 1980er geboren. Ich war das Kind, das das Krankenhauspersonal durch sein exotisches Erscheinungsbild faszinierte. Eine so dichte Kopfbedeckung hatten meine Zimmergenossen nicht – und damit meine ich nicht das nicht existente Kopftuch. Besondere Aufmerksamkeit kam mir zu Gute. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen damaligen Zimmergenossen entschuldigen: Es war wirklich nicht meine Absicht, die Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf mich zu ziehen. Es war  mein erstes Label.

Doch alles rächt sich irgendwann.

Mein erstes Label also. Trug ich es mit Stolz? Oder mit geneigtem Kopf? War es mir unangenehm? Oder spielte ich damit, wie Säuglinge und Kleinkinder es tun, wenn sie das Einsatzvermögen ihrer Finger erst einmal erfolgreich erforscht haben?
All das kann ich nicht aus meinem damaligen kognitiven Vermögen beantworten. Doch die (Neuro-)Biologie und die Sinnesforschung lieferten mir im späteren Leistungskurs Biologie der Oberstufe des Gymnasiums interessante Ergebnisse:

Die Haut als hoch spezialisiertes Sinnesorgan, auf dem mein erstes Label angebracht wurde: Die sensiblen Rezeptoren der Haut, die durch Berührung aktiviert werden und diese an das Gehirn weiterleiten, waren von nun an unter Daueraktivität. Das Label aktiviert Prozesse, die von außen nicht eindeutig identifizierbar sind. Diese Prozesse spielen sich im Gehirn als eine Art Hightech- Verarbeitungssystem ab, welches nicht nur den Ort der Berührung lokalisiert, sondern auch die Art dieser.
Der Ort blieb also immer der Selbe, nur die Art der Labelanbringung und das Label verändern sich stetig. So ist das nun mal in einer Welt, die sich der Technologisierung verpflichtet hat. Alles wird vereinfacht. Das mühselige Aufbringen eines Labels, was früher noch von Hand geschah, übernehmen heute Maschinerien, die effizienter produzieren als es ein Einzelner manuell je bewerkstelligen könnte. 

Mein erstes Label war also gedruckt und angebracht: Das Ausländerbaby.

Nun stellt sich nur die Frage: Von wem oder was?

Meine Mutter, die noch das Gastarbeiterkind war, hatte nun ein Ausländerbaby. Etwas verzwickt dieser deutsche Begriffswald. Kein Wunder, dass nun nicht einmal mehr der Aktant weiß, was er nun darstellt, welcher Linie er zuzuordnen ist.

Welches Lesegerät kann denn nun beide Labels gleichzeitig lesen und dann auch noch das momentan gültige herausfiltern und der erforderlichen Kategorie zuordnen? Falls es ein solches Gerät gibt, bitte ich darum es mir zukommen zu lassen. Es würde mir mein gegenwärtiges Leben enorm erleichtern.

Nun ja, da meine Mutter nun selber nicht mehr so genau wusste, wer oder was sie sei, sahen meine Berührungen mit dem neuem System, in dem ich von nun an leben sollte, schnittmengenorientiert aus:

Nikolaus wurde gefeiert, da die Mehrheitsgesellschaft dies tat, der werte Herr jedoch aus dem heutigen Herrschaftsgebiet meiner Vorfahren stammt.
Das Lamm als Agnus Dei und als Symbol des eid al adha, führte dazu, dass ich vegetarisch leben wollte, nachdem seine Beine mich aus einer Tüte angesehen hatten. Dies hatte den positiven Nebeneffekt, dass ich die Frage, ob ich Schweinefleisch essen würde, mit dem Verweis auf mein vegetarisches Leben abtun konnte. Zwar war dies nicht die erwartete und zufriedenstellende Antwort, aber es war eine Antwort auf die Frage.
Auch das Erlernen mir damals fremder Sprachen war ein Leichtes für mich; durch die Kenntnisse über die französischstämmigen Begriffe meiner Erstsprache und den erfolgreichen Erwerb meiner Zweitsprache bastelte ich mir meinen französischen Sprachschatz zusammen. Die Kenntnisse über das System der Altaisprachen und das der indogermanischen Sprachen führten zu meinen ersten erwähnenswerten und vermögenswirksamen Verdiensten. Wenn diese auch nur in Form veralteter medialer Geräte bestehen, so waren es die zur genannten Epoche nötigen Utensilien zur Verdeutlichung des Markenbewusstseins.
Sogar mein Reiseverhalten war kompatibel mit dem der Aufnahmegesellschaft. Urlaub in dem Herkunftsland meiner Vorfahren zu machen, wurde auch für die Mehrheitsgesellschaft meines Systems Trend. Ich fiel nicht mehr auf. Meine Postkarten glichen den meiner Mitschüler und tapezierten die ebenmäßige Pinnwand des Klassenzimmers mit der Aufschrift „Ich komme aus…“.
Wie durch diese kurzen Anekdoten deutlich wird, war die Schnittmenge aller das Individuum berührender Faktoren das, was das Leben eines Ausländerkindes einer Gastarbeitertochter ausmachte. 

Schnittmengenorientierung war das geheime Produktionskonzept eines nivellierenden Produktionsprozesses für die nun auf dem Markt kursierenden Prototypen, die die bisherigen Qualitätskontrollen ausgezeichnet bestanden haben. Diese aber wettbewerbs- und marktfähig zu machen, erfordert weitere Optimierung im Hinblick auf die Massenproduktion von funktionsfähigem Humankapital.
Der Schnitt als symboltragendes Element durchzog sich nicht nur durch die in Deutschland getrennt lebende Gesellschaft, deren Grund damals die physisch existente Mauer war, heute jedoch das psychisch wiederaufgebaute Update der Mauer ist, sondern auch durch meine intergenerierte Identität.

Intergeneriert. Wieder ein solches Wort, das alles und nichts bedeutet. Wieder ein solch neumodischer Quatsch. Zu allem Übel gibt es auch noch eine Bezeichnung für solche Quatschwörter: Neologismen. Damit messen wir diesem Quatsch doch bloß wieder eine Bedeutung bei und machen es dadurch erst bedeutungstragend! Recht haben Sie, die das hier lesen. Denn genau das ist die Aufgabe und die Funktion zugleich: Bedeutung beimessen.
Ebendieselbe Aufgabe und Funktion, die auch die Existenzlegitimation des Labels ist.